Vor nunmehr vielen Jahren, Mitte der 1970er-Jahre, besuchte ich zusammen mit einem guten Freund, in der damaligen DDR einen jungen Pfarrer. Wir saßen in seinem Wohnzimmer, auf dem Tisch ein kleines Väßchen mit Gänseblümchen, als wir uns über die Kathedrale von Chartres unterhielten.
Mein Freund und ich waren damals, kurz vor unserer Reise in den Osten Deutschlands, gerade dort gewesen. Unser Gastgeber hatte aufmerksam einige Bücher über dieses imposante Bauwerk des ausgehenden Mittelalters und seine Geschichte gelesen. Ich konnte mir damals die Frage danach nicht verkneifen, wie er sich fühlen würde, wenn er jemals die Kathedrale besuchen könnte (fünfzehn Jahre später wurde das für ihn Wirklichkeit). Die Antwort, die er dann gab, hat mich indes so beeindruckt, dass ich sie nie vergessen habe.
Er deutete auf die Gänseblümchen auf dem Tisch und begann damit, zu beschreiben, was und wie er an ihnen erlebt. Die gotischen Bauformen der Kathedrale, ihre wunderschönen, geheimnisvollen Glasfenster, die aus Stein gehauenen Figuren und Plastiken, die schwarze Madonna in der Krypta der Kirche – alles wurde lebendig und gegenwärtig, indem er beschrieb, was an den Gänseblümchen für denjenigen erlebt werden kann, der es vermag, seine Sinne dafür wirklich zu öffnen. Die ganze, hervorragende Perfektion architektonischer Kunst, statischer Präzision, geheimnisvoll farbiger Gläser, zeitloser Formen und Proportionen, die der Kathedrale – und den Gänseblümchen gleichviel – als Ausdruck ewigen Lebens zueigen ist: Gegenwärtig in ein paar Blumen zwischen den Kaffeetassen auf dem Tisch vor uns! „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, Antoine de Saint Exupery hatte Recht. Es gibt wohl wirklich einen Sinn, der vom Innenweltlichen aus das Außenweltliche für das Wesentliche zu erschließen vermag.
Zweifelsohne war dieser Exkurs in die Weiten und Schönheiten der Welt von der Melancholie des faktischen Gefangenseins unseres Gastgebers getragen. Gefangen in geschmacklose Straßenzüge mit Plattenbauten, gefangen in die städtische, damals sehr Natur entfremdete Umgebung Ostberlins. Aber es war wahrhaftig, lebendig, einladend und nachvollziehbar, und – vor allem – keine Phantasie, sondern eine wirkliche Begegnung mit einem großen Ganzen. Auslöser war, so deute ich es heute, eine liebevolle Zuwendung zu dem gegenwärtig Möglichen, dass dafür geeignet war, ein unendliches Mehr zu erschließen.
Als ich kürzlich mit dem mittlerweile gealterten Pfarrer telefonierte, habe ich ihm von dieser Begebenheit erzählt. Es hat ihn beeindruckt, wie stark der Nachklang durch Jahrzehnte in mir wirkte. Er hatte damals „einfach“ mit einer Erzählung auf meine Frage geantwortet, die mich aus heutiger Sicht den Mangel erleben lässt, in dem wir, die wir damals uneingeschränkt reisen und studieren konnten, lebten. Und vor allem die Fülle ist für mich unvergesslich, aus der unser Gastgeber damals inmitten von Großstadtgrau und ideologischen Bedrohungen souverän sein weltgeweites Bewusstsein zum Erlebnis brachte.
Ich schreibe davon jetzt und hier, weil die kleine Begebenheit für all das stehen kann, was uns Heutigen, mehr denn vor vierzig Jahren, aufgegeben ist: im vordergründigen Mangel der Fülle gegenwärtig zu sein und zu bleiben, die aus recht verstandenen Kleinigkeiten erfahren werden kann und will. In den vorangegangenen drei Kapiteln habe ich aufgezeigt, wie sich unser Weltverständnis in Riesenschritten grundlegend verändert. Wir sind in diesen Wandlungsereignissen mehr denn je mit dem Mangel an Natürlichkeit, also mit der Entfremdung vom Leben konfrontiert. Eine künstliche Welt, die vielfach nur noch Reste des Eigentlichen, Natürlichen zurück lässt wächst allerorten in das Leben hinein. Man braucht allerdings daran nicht zu verzweifeln, denn selbst im vermeintlich Kleinen ist das große Ganze stets gegenwärtig und zugänglich. Und: Selbst der Zwang im erlebten und erlittenen Mangel beschert die Chance dafür, selbstgewollt die Öffnung der Sinne, Mitweltlichkeit in den eigenen Taten, und damit die Reunion mit dem Leben zu vollziehen.