Vor einigen Jahren führte mich eine erste Reise nach Kanada auch an den Fraser River Canyon. Eine beeindruckende Schlucht, die zu den wohl sehenswertesten Zielen an der Westküste dieses wunderbaren Landes gehört. Naturkräfte haben sie in langen Zeiträumen in die Landschaft gegraben.
In Kanada ist die Schlucht bis zu 180 Meter tief. Weit unten sieht und hört man das Wasser des Flusses rauschen. Die beiden Seiten der Schlucht sind nahezu unüberwindbar voneinander getrennt. Der Anblick macht schwindelig. Der Brückenbau über eine solche Schlucht würde viel Kraft verschlingen und ein Seiltanz ist nicht jedermanns Sache. Trotzdem: gerade in der heutigen Zeit ist prinzipiell jede Schlucht überbrückbar!
Eine ebenso nur schwer überwindbare Schlucht hat sich in die Angebotswelt unserer heutigen Wirtschaft gegraben. Da sind auf der einen Seite die Kampfpreise. Waren und Dienstleistungen werden unter immer härteren Bedingungen angeboten, weil das Geld der Verbraucher nicht ausreicht, die eigentlich notwendigen Preise zu zahlen. Die Konkurrenz, inzwischen weltweit ausgerichtet, zwingt zu Preisen, die keine auskömmlichen Einkommen für Erzeuger, Hersteller und/oder Händler ergeben. An den Kassen der Supermärkte arbeiten Menschen vollzeitig, die von ihren Einkommen nicht mehr unbesorgt leben können, Fachgeschäfte werden aus den Innenstädten verdrängt, weil die Mieten spekulativ zu hoch getrieben wurden. Und irgendwo auf der Welt zahlen arme, hungernde Menschen den eigentlichen Preis, indem sie unter unwürdigen Bedingungen zu Billiglöhnen produzieren, was in Innenstädten und Onlineshops zu Billigpreisen verramscht wird.
Die andere Seite dieser Schlucht wird durch Preise gebildet, die zwar für Herstellung und Distribution auskömmlich, aber für die meisten Verbraucher unerschwinglich sind. Der handgefertigte Anzug vom Schneider oder die Reparatur eines Haushaltsgerätes konkurrieren mit der Kleidung von der Stange (Made in Taiwan) und dem günstigeren Neuerwerb anstelle der lohnkostenintensiven Reparatur. Höhere, gerechtere Preise sind fast schon zum unerschwinglichen Luxus geworden. Billigartikel sind oft scheinbar der für viele einzig mögliche Kompromiss. Wollen wir das? Muss das wirklich immer so weiter gehen? Oder wird es Zeit, auch hier eine solide Brücke zu bauen?
Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, mit zwei Frauen über die Preise der Friseure zu diskutieren. Die eine der beiden Frauen war zufrieden, lobte den guten Service und die gute Qualität der Arbeit, die andere war empört. Für mich waren die genannten Preise eine angemessene Entlohnung für gute handwerkliche Arbeit. Natürlich geht es auch billiger (cut and go), aber unter welchen Bedingungen? Natürlich können sich die meisten Menschen unter den gewöhnlichen Bedingungen als Verbraucher eine faire Entlohnung nicht mehr so ohne weiteres leisten. Und doch ist hier eine Veränderung möglich und nötig.
Es beginnt mit der Einsicht, die jeder von uns haben kann. Gute Angebote von Waren und/oder Dienstleistungen haben ihren Preis, wenn die Bedingungen und das Umfeld nachhaltig und fair sein sollen. Die Wirtschaft, die sich auf Verbraucher- und Anbieterseite auf angemessene Preise einigt, ist schon mittelfristig allein dazu geeignet, unsere Versorgung auf einem akzeptablen, gesunden Niveau zu gewährleisten. So sehr wir als Verbraucher den regionalen Fachhandel durch unsere Einkäufe unterstützen, so sehr Gewerbetreibende faire Preise kalkulieren und für diese auch erklärend werben, werden unsere wirtschaftlichen Verhältnisse gerecht und stabil sein. Das ist erst mal eine Tatsache!
Dann stellt sich natürlich bald die Frage, ob man bei seinem besten Willen finanziell in der Lage dazu ist, bewusst, auch im Angesicht höherer Preise, einzukaufen. Klare Antwort für die meisten Verbraucher: Bestimmt nicht bezogen auf den ganzen Bedarf, aber zum Teil auf jeden Fall!
Ein guter Vorsatz könnte sein, jedenfalls einen Teil seiner monatlichen und jährlichen Ausgaben dort zu tätigen, wo man selbst nach gründlicher Überlegung ganz und rundum zufrieden ist. Suche dir im „Schnäppchen“- und „Geiz ist geil“-Zeitalter doch die eine oder andere Gelegenheit aus, wo du in Zukunft guten Gewissens einkaufst, weil du weißt, dass die Bedingungen der Herstellung und des Handels in Ordnung sind. Ganz konkret könnte das bedeuten: Gib 50 Euro je Monat und 100 Euro bezüglich der jährlichen Anschaffungen nicht unter dem Gesichtspunkt des günstigsten Preises aus. Das wären 700 Euro insgesamt pro Jahr. Bezogen auf diese Summe belaufen sich die möglichen Mehrkosten auf allenfalls 10-20 Prozent, was ein Betrag ist, den jeder verschmerzen kann.
Mitweltliche Wirtschaft fördern und den unseligen Preiskämpfen entgegentreten, ist also kein Seiltanz über eine tiefe Schlucht, sondern eher ein gemütliches Wandern über eine tragfähige Brücke. Es liegt in unser aller Hand, welche Form der Wirtschaft wir für unsere Zukunft wollen, entscheiden können wir darüber durch (wenigstens teilweisen) bewussten Konsum.