Auszug aus dem Buch "Sterben und Tod":
Es ist kaum mehr als einhundert Jahre her, historisch ein kurzer Zeitraum, als 1953 durch Björn Ibsen in Kopenhagen die weltweit erste Intensivstation eröffnet wurde. Die Polyomyelitis, die „Kinderlähmung“ war zu der Zeit weit verbreitet und forderte, weil schließlich auch die Atmung angegriffen wird, viele Todesopfer. Allein in Kopenhagen wurden damals täglich 30 bis 50 Erkrankte eingeliefert, von denen 87 Prozent der bald eingetretenen Atemlähmung erlagen. Mit der seit 1953 möglichen Langzeitbeatmung mittels Intubation (dieses Verfahren begann fortan die „Eiserne Lunge“ zu ersetzen) gelang es schließlich, die Todesfallrate auf durchschnittlich 25 Prozent zu senken.
Überhaupt waren nun durch die Fortschritte auf dem Gebiet der Intensivmedizin die bis dato gültigen Definitionen vom Todesbegriff erschüttert. Bedingt durch die apparative Intervention konnte fortan der Ablauf des Todesprozesses verändert werden: Der Ausfall aller Hirnfunktionen (der so genannte „Hirntod“) konnte dem klinischen Tod als Folge des Herz-Kreislaufversagens nun vorangehen. Auch darum stellte sich notwendig die Frage danach, wann ein Mensch unter den neu geschaffenen Bedingungen der Apparatemedizin künftig für tot zu erklären sei. Prinzipiell wäre es möglich, die einmal eingeleitete, künstliche Beatmung nebst apparativ ermöglichter Herz-Kreislauftätigkeit zeitlich unbegrenzt auch dann noch aufrecht zu erhalten, wenn das irreversible Hirnversagen längst eingetreten ist. Allerdings ist das technisch Mögliche für viele ethisch nicht zu vertreten. Darf der Stecker also irgendwann gezogen werden? Und: Wann ist „irgendwann“, und wer entscheidet darüber?
Im Jahr 1953 gelang die erste Operation mit Einsatz einer Herz-Lungenmaschine. Mittels dieses kardiopulmonalen Bypass konnte eine junge Frau mit einem Vorhofseptumdefekt für die Dauer von 45 Minuten am offenen Herzen operiert werden. Aber nicht nur für die Chirurgie waren entscheidende Fortschritte zu verzeichnen, sondern auch auf dem Gebiet der Anästhesie. Nachdem man seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts damit begonnen hatte, die bewusstseinsverändernde Wirkung von Gasen zu erforschen, wurde bald damit begonnen, mittels Lachgas Anästhesien durchzuführen. Beim „Äthertag von Boston“ operierte der Arzt John Collins Warren 1846 schließlich erstmals einen Patienten mit einem Halsgeschwür unter Narkose. Der Tod der Schmerzen („Death of pain“) wurde verkündet!
Ebenfalls im Jahr 1953, in dem mit Werner Sauerwein in Deutschland erstmals ein Facharzt für Anästhesie approbiert wurde, begann auch die Geschichte der Narkose durch kontrollierte Hypothermie (zu griechisch thérmē = Wärme). Angewendet wird die Unterkühlungsnarkose bei Operationen am Gehirn oder Herzen, wenn es darum geht durch gewollte Ischämie (von altgriechisch ἴσχειν/ἔχειν is-chein/echein „zurückhalten“ sowie αἷμα haima „Blut“) die Bedürfnisse der Zellen und Gewebe zu reduzieren, damit sie den chirurgischen Eingriff besser überstehen. Nachdem 1949 der französische Militärarzt Henri Laborit im Pariser Armeehospital Val-de-Grace erstmals die Körpertemperatur eines Patienten in der Narkose durch Verwendung des damals neuen Medikaments „Pulver 4560“ (das die Ganglien im Hirn blockiert) um mehrere Grade gesenkt hatte, wurden seither Verfahren entwickelt, mit denen z.B. das venöse Blut außerhalb des Körpers gekühlt und diesem wieder zugeführt wird. Dabei sinkt die Körpertemperatur schrittweise, bis bei etwa 25 Grad Celsius faktisch der klinische Tod eintritt („deep hypothermia“, auch Hypothermischer Herzstillstand). Die Operation selbst beginnt in ihre entscheidende Phase zu treten, wenn die Temperatur weiter auf etwa 15 Grad Celsius gesenkt wurde. Den Chirurgen bleibt nun ein Zeitfenster von 30 bis maximal 60 Minuten, bevor irreversible Schäden am Organismus eintreten, der ansonsten kontrolliert und schadlos in diesem Todesschlaf verweilen kann.
Während mittels der Intensivmedizin das Sterben verlängert, bzw. der sonst sichere Eintritt des Todes verhindert werden kann, hatte sich die Anästhesie bis in die 1950er-Jahre hinein also so weit entwickelt, dass ein kontrollierter Tod herbeigeführt werden kann. Wenngleich kein vernünftiger Mensch an den segensreichen Möglichkeiten der Intensivmedizin zweifeln wird, ergibt sich dennoch angesichts des technisch Möglichen die Notwendigkeit, darüber zu entscheiden, wie weit man für sich selbst derartige Interventionen wünscht. Wenn es drauf ankommt, wenn der Prozess des Sterbens vermeintlich zu einem finalen wird, ist es von großer Bedeutung, ob ein Mensch in Zeiten der klaren Verfügungsfähigkeit für sich Entscheidungen getroffen hat: Will man, dass der Kampf ums Weiterleben begonnen wird, wenn man sich der Schwelle des Zeitlichen nähert oder schließt man das für sich aus? Die moderne Intensivmedizin trägt insofern dazu bei, dass jeder Mensch auch über das Absolute in seinem Sterben und Tod zu entscheiden beginnt.