Auszug aus dem Buch „Sterben und Tod – Am Ende ist es nicht vorbei“ Infos und Bestellung hier
Schon im ersten Kapitel dieses Buches ging es u.a. darum, dass wir unser Leben auf Erden jenem Widerstand verdanken, der den Kräften der Natur von unserem Leib aus fortwährend entgegengebracht wird. Auf der Basis dieses Widerstrebens entfaltet sich die gesamte Vielfalt jeder leiblichen Existenz.
Für gewöhnlich folgt darin eine Entwicklungsstufe der nächsten. Zug um Zug verbessert sich alles, dem Ziel der Vollkommenheit entgegen. In einer Biografie sind es Lernerfahrungen, die klüger und immer klüger machen. Schicksalsereignisse wandeln Gelerntes zu Weisheiten. Das Netzwerk der Befreundeten und Bekannten vergrößert sich im Laufe eines Lebens. Oder: Immer mehr Gegenden der Welt werden bereist, Feste gefeiert, Darlehen getilgt, Enkelkinder geboren, Gärten bestellt, Krisen überstanden, Gelegenheiten geschaffen, Pläne geschmiedet.... Und dann ist das alles irgendwann einmal einfach vorbei?
Wir Menschen der Gegenwart haben zu denken gelernt: Existieren bedeutet Werden, und nicht Vergehen. Ist etwas lebendig, kann es nicht zugleich auch sterbend oder gar tot sein. Und Leben ereignet sich in einer fortwährenden Evolution, in der sich die Vervollkommnung aller Wesen und Welten ereignet. Wenn etwas stirbt, dann nur aufgrund seiner Schwäche und Unterlegenheit. Stärke behauptet sich. Was schwach ist oder wurde, verschwindet von der Bahn der Evolution. Diese Denkgewohnheiten bestimmen so ziemlich überall unsere Kultur – und stehen einem wirklichen Verständnis von Sterben und Tod entgegen.
Die vorherrschende Weltsicht der Ökonomie folgt in der Konsequenz einem nicht endenden Wachstumszwang. Aber auch die modernisierten Religionen sind, ebenso wie die meisten spirituellen Lehren, im übertragenen Sinne einem Wachstumsprimat erlegen. Ziel aller Entwicklung ist ebenfalls das Besser, Größer, Schöner... Ob es sich im einen Fall um Erfolgreiche mit dickem Bankkonto handelt, oder im anderen Fall um Glückliche mit gutem Karma: Leben wird mit Erfolg und Sieg identifiziert, Sterben und Tod hingegen mit Verlust und Niederlage. Der verdrängte Tod ist überall eingesickert, selbst in das Verhältnis der Menschen zu Gott. Welch ein Dilemma!
Aber nichts ist so sicher wie der Tod. Er ereilt irgendwann alle. Dann ist „es“ vorbei. Ein gelebtes Leben, eine Biographie ist an ihr Ende gelangt. Dieses vermeintliche Ende nimmt sich wie eine Kulmination aus: Die vielen Sterbeerfahrungen, die im Laufe des Lebens bereits gemacht wurden, finden sich in der einen, großen am Ende eines Erdenlebens wie zusammengefasst. Tatsächlich ist es dann nicht anders als bei anderen Todeserfahrungen, die bereits gemacht und überstanden wurden, nur eben größer, umfassender. Etwas ist zu ende, anderes beginnt. Wie eine Wohnung verlassen, oder ein Kleid abgelegt wird, verabschiedet sich ein Mensch von seinem Leib und tritt aus allem heraus, was bisher Umfeld und Bedingungen seiner Existenz war. In den vielen Jahren vorher war auch immer wieder etwas zu ende. Dann folgte der Nacht ein neuer Tag, an das Verlassen der einen Lebenskreise schlossen sich neue Erfahrungen und Freundschaften an, jedem Winter folgte ein Frühling: Das Leben zeigte immer, dass es leben will und immer weiter wird. Nichts sonst. Das können wir realisieren, empfinden und verstehen. Die Erfahrung lehrt, dass nichts einfach ohne Zukunft und Weiter zu ende geht. Es spricht nichts dafür, dass das je anders sein wird, – auch nicht am Ende unserer Erdentage.
Allerdings passiert jeder sterbende Mensch in der Begegnung mit dem Tod eine Schwelle der Freiheit, insofern er sich ganz offensichtlich zu entscheiden hat, ob er all die Lebenserfahrungen des Sterbens als solche auch beachten will. Er kann nämlich auch die tatsächlich gemachten eigenen, persönlichen Erfahrungen übergehen, indem er vordergründig mit dem Ende seines Erdenlebens verbindet, wofür es tatsächlich keine Beispiele im wirklichen Leben gibt. Dann erscheint der Tod als bitteres Ende, das Vergehen ohne Zukunft und das Leben in den Grenzen einer unergründlichen Nacht. Diese Entscheidungsart ist verbreitet. Viele Menschen irrealisieren, was das Leben über sich und das Sterben überall und stets vermittelt. Möglicherweise ist das für den Menschen der tiefste Sinn von Sterben und Tod, dass es darum geht, zu realisieren oder zu irrealisieren, dass das Leben jeden Tod überdauert.