Erinnern Sie sich an einen Tag, von dem Sie sich wünschten, er möge nie zu ende gehen? Und erinnern Sie sich ebenfalls an einen anderen Tag, dessen Ende Sie sich sehnlichst herbei gewünscht haben? Was unterscheidet die beiden Tage voneinander?
Indem wir uns anfänglich Klarheit darüber verschaffen, wie sehr wir als Menschen als zur Entwicklung veranlagte Wesen für Behauptung und Gestaltung unserer Existenz auf Bedingungen angewiesen sind, die von Anderen hervorgebracht wurden und werden, bricht die grundsätzliche Frage danach noch deutlicher auf, inwieweit Vorgefundenes dem Eigenen entspricht. Es gibt für jeden Menschen individuelle Erwartungen, Wünsche, Sehnsüchte und Ideen, in denen sich das Eigene widerspiegelt. Inwiefern das Eigene, also das Zentrum des Selbstbewusstseins als emergent oder als originär bezeichnet werden kann, ist bis dato umstritten, wenngleich manches darauf hinweist, dass wir es bei den Lebensträumen mit einer eigenen, bedeutenden Realität zu tun haben. Eine im besten Sinne hintergründige Bewusstseinsqualität ist gemeint, von der uns Menschen gelegentlich Ahnungen zur Verfügung stehen – oder die wir unserem wachen Zugriff mehr und mehr erschließen können.
Träume treten zweifellos als Reminiszenzen alltäglicher Erfahrungen auf. Sie können auch aus begabter Phantasie hervorgebracht werden. Beides, das Nachträumen und das Phantasieren können als sehr realtitätsnah erfahren werden, ohne es je zu sein. Darüber hinaus gibt es aber eben auch noch eine ganz andere Ebene des Träumens, von der wir gerade – wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt – in den letzten Jahrzehnten immer mehr erfahren. Menschliches Bewusstsein geht offensichtlich gelegentlich weit über die bisher gekannten Grenzen alltäglicher Erfahrungen hinaus.
In der Motivationspsychologie weiß man mittlerweile, wie eng die Grunderfahrungen von Leistung, Macht und Intimität für jeden Menschen mit der Übereinstimmung von Lebensträumen und -räumen verknüpft sind. Jedem diesbezüglichen Optimum liegt die Selbsterfahrung des Menschen zugrunde, sich in seiner Welt, in seinem Alltag möglichst weitgehend beheimatet fühlen zu können. Alles Ungewohnte, Unbekannte, irgendwie Unwirtliche wirkt direkt demotivierend auf uns. In der eigenen Wohnung fühlt sich der Mensch freier und leistungsfähiger als in jedem noch so gut gestalteten Hotelzimmer. Dass das so ist, ist nichts besonderes und jedem Menschen aufgrund vielfältiger Erfahrungen klar. Interessant bleibt es dennoch, nach dem Warum zu fragen. Was drückt sich denn in der Gestaltung der eigenen vier Wände aus, und wie bewusst wurde dabei vorgegangen?
Lebensträume sind faktisch der Quell starker Motivationen eines Menschen. Sie liefern Grund für sein innerlichstes Koordinatensystem, dem folgend er den Grad der Qualität erlebt, die ihm konkret in seiner Umgebung zugänglich wird. Der Amerikaner John Allan Hobson, Harvard-Professor für Psychiatrie und anerkannter Traumforscher bezeichnete Träume anfänglich dennoch als „a form of Madness“ (eine Form des Wahnsinns), indem das Gehirn versucht, zufällige Energiesignale zu deuten. Inzwischen ist ihm aber auch klar geworden, dass sich in Träumen gelegentlich persönliche Erfahrungen widerspiegeln, sie demnach also auch verborgene Bedeutungen enthalten können.
Die unbewussten Verarbeitungsprozesse im Traum, seit Sigmund Freud zentraler Gegenstand psychoanalytischer Forschung, ereignen sich dennoch nicht auf dem tiefsten Grund des Träumens. In diese noch relativ unerforschten Bereiche des Bewusstseins dringen die „Oneironauten“, die Traumforscher der Gegenwart erst jetzt allmählich vor. Dabei verschwimmt für die Hirnforschung die Grenze zwischen den Zuständen des Wachseins und des Schlafes immer mehr, denn wir Menschen sind während des Wachens weder stets hellwach, noch im Schlaf ohne Verbindung zur sinnerfüllten Wirklichkeit. Die Welten des Bewusstseins durchdringen sich. In Laborexperimenten wird das Phänomen für geschulte Probanden zugänglich, die vorher jene Fähigkeit des Klarträumens ausgebildet haben, aufgrund derer ein träumender Mensch nicht nur weiß, dass er träumt, sondern auch den Gang der Traumerfahrungen beeinflussen kann. Ein Bereich des Bewusstseins wird ihm zugänglich, dem darin Ungeschulte in hinnehmender Passivität bloß ergeben sind.
Der Psychologe Michael Schredl vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim weißt darauf hin, dass es nicht nur Widerspiegelungen alltäglicher Erfahrungen sind, die den Träumen eines Menschen Bedeutung verleihen, sondern dass es ebenso die Grundmuster seiner Persönlichkeit sind, die den wogenden Bildern hinter den alltäglichen Wirklichkeiten zugrunde liegen. Im luziden (lat. für „Klarheit“) Träumen vermag der Mensch darum auch vieles sonst Verborgenes über sich und seine eigentlichen Impulse und Fähigkeiten zu erfahren.
Von solchen Einsichten aus ist es kein weiter Weg bis zu jener Schnittstelle, an der idealiter Lebensträume und Lebensräume miteinander verschmelzen. Aus der Beobachtung des Traum-Ichs kann der Mensch Leitlinien für seine bewusste, persönliche Lebensführung gewinnen. Aber zunächst bleibt das schmerzhafte Erleben einer Diskrepanz zwischen dem Eigenen und dem Vorgefundenen, die sich sogar auf das Selbsterleben des Menschen beziehen kann. Was jemand eigentlich will ist oft nicht das was er soll. Pointiert drückte jemand das in dem Tweet aus: „Kannst du dich erinnern, wer du warst, bevordie Welt dir erzählt hat, wer du zu sein hast?“ Und der spanische Dichter Juan Ramon Jiminez schrieb einmal:
Ich bin nicht ich
Ich bin jener,
Der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
Den ich oft besuche,
Und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
Der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
Der umherschweift, wo ich nicht bin,
Der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.