Jedes Lebewesen sorgt sich, von Bedürfnissen geleitet, um sich selbst. Auf die Nahrung z.B. ist es angewiesen und existiert darum aufgrund einer unumgänglichen Beziehung zu ihren Quellen. Die Situation von uns Menschen ist auch diesbezüglich eine besondere, weil es uns möglich ist, aus unseren Bedürfnissen heraus mehr oder weniger freizu handeln.
Dabei deckt sich unser Lebensraum in aller Regel nicht nur Natur gegeben mit unserem Versorgungsbereich, denn wir können letzteren sogar willkürlich gestalten und weit über unseren nächstliegenden Aktionsradius hinaus erweitern, aufteilen, sogar globalisieren. Die Fakten lehren allerdings: Je weiter wir darin reichen, desto geringer ist offensichtlich der Anteil mitweltlicher Vernunft in unserem Handeln. Aber auch: Mit der möglichen Erweiterung unseres Versorgungsbereichs könnten wir auch unser Bewusstsein erweitern. Über die Fähigkeiten dazu verfügen wir, es kommt nur darauf an, ob wir es auch wollen und tun!
Auch wir Menschen sind immer Wesen der ganzen, weiten Welt. Ohne Verbindung mit allem anderen was ist würde kein Mensch leben können. Der absolute – essenzielle und existenzielle – Zusammenhang allen Lebens ist eine Tatsache, die nicht zu leugnen ist, wohl aber, von uns Menschen, bewusst erkannt und gestaltet werden kann. Diese Herausforderung leitet zum Sinn und Zweck des Menschseins, das zwar essenziell mit allem verbunden ist, aber existenziell auf einem davon separierten Bewusstsein seiner selbst beruht, um – mutmaßlich, bzw. bestenfalls – in Freiheit schließlich die ganze Welt als Lebensraum zu begreifen und adäquat zu gestalten.
Wenn Sie an einem Platz in unberührter Natur für eine längere Zeit verweilen wollen, werden Sie zuerst die unmittelbare Umgebung erkunden und danach bedarfsgerecht gestalten. Sie wissen, dass Ihnen für das Feuer eine gewisse, begrenzte Menge trockenen Holzes zur Verfügung steht, dass es in der Nähe eine Quelle gibt, die Beeren an manchen Sträuchern essbar sind usw. Je besser Sie das alles wissen, desto wohler und sicherer werden Sie sich fühlen. Diese fiktive Situation beschreibt die Ausgangslage eines jeden Menschen: Es steht ihm alles jederzeit für das eigene Leben zur Verfügung. Diese Voraussetzung gilt aber nicht nur für jeden Menschen, sondern für jedes Lebewesen auf Erden und sogar für alles was ist. Und: Kein Lebewesen ist darin allein. Es sind immer alle, die sich diesbezüglich in der grundsätzlich gleichen Situation befinden. Wie organisiert sich unter dieser Voraussetzung gemeinsames Leben? Wie entsteht Recht? Und welche besondere Rolle kommt uns Menschen darin zu?
Einzelwesen und gemeinsamer Organismus
Zum Verständnis darüber, wie natürliche soziale Strukturen entstehen, kann die Beobachtung des Tierreichs verhelfen. Die beiden Wissenschaftler Edward O. Wilson, Zoologe und Evolutionstheoretiker, und der Verhaltensbiologe Bert Hölldobler beschäftigen sich dafür ausgiebig und intensiv mit dem Leben der Ameisen. Unter Fachkollegen gelten sie gar als die „Stars der Ameisenforschung“. Gemeinsam haben sie ihre Forschungsergebnisse und Folgerungen in einem Buch veröffentlicht (Edward O. Wilson, Bert Hölldobler "The Superorganism: The Beauty, Elegance, and Strangeness of Insect Societies", New York 2010), in dem sie u.a. das Leben der Blattschneiderameisen exemplarisch für die evolutionären Entstehungsmechanismen sozialer Tiergemeinschaften beschreiben.
Im Staat der Blattschneiderameisen ist das gemeinsame Leben aufgrund einer eindeutigen Rollenverteilung effizient geregelt. Jedes Tier hat eine klare Aufgabe zum Wohl aller anderen zu erledigen, und tut das ohne jedes Wenn und Aber. Jede einzelne Ameise agiert als Teil des Ganzen und nimmt sich darin aus, wie die einzelne Zelle in einem Leib. Im Ameisenstaat sind die Insekten darüber hinaus mit den Pilzen, die sie in ihren Nestern pflegen eine regelrechte Symbiose eingegangen. Der Pilz dankt es den Tieren mit Nahrung, dass sie ihn hegen und pflegen. Und auch die Architektur des Ameisenbaus ist von erstaunlicher Funktionalität. Alle Kammern werden von Frischluft durchzogen, die durch ein ausgeklügeltes System von Öffnungen und Gängen zirkuliert. Dabei werden in Bauten der Art Atta laevigata bis zu 7.000 Kammern klimatisiert, die zusammengenommen bis zu acht Meter tief in die Erde hinab reichen. Eine Leistung, die derjenigen hochquakifizierter Ingenieure in nichts nachsteht!
Auch unter den Bienen sind die Völker ähnlich konsequent organisiert. Im Sinne einer speziellen Arbeitsteilung sind die verschiedenen Tiere jeweils für Nahrungsbeschaffung, Heizen, Kühlen, die Verteidigung, die Brutpflege usw. zuständig. Alle wirken in einem großen, gemeinsamen sozialen Organismus derart zusammen, dass es davon unabhängig auf Dauer keine Einzelexistenz geben kann. Dafür vernetzen sich die Bienen miteinander von Gehirn zu Gehirn aufgrund einer ausgeklügelten Kommunikation. Die Handlungen einer einzelnen Biene sind darin immer Ausdruck des Ganzen, für Willkür bleibt kein Raum.
Der australische Biologe und Erfolgsautor Tim Flannery überträgt solche Phänomene auf die Zukunft der Welt der Menschen, indem er mutmaßt: „Wir sind jetzt an der Schwelle, einen globalen Superorganismus zu bilden. Das bedeutet, es wird kein ‘außerhalb’ mehr geben. Da ist kein ‘anderer’ mehr. Wir werden als eine einzige planetare Gemeinschaft leben, mit Grundwerten, die wir alle teilen. Und diese Entwicklung ist extrem wichtig für die Zukunft allen Lebens auf der Erde, denn zum ersten Mal in der Geschichte wird dieser Super-Organismus, diese globale Intelligenz in der Lage sein, ein einheitliches Signal an die Erde zu senden. Was das bedeutet, ist, dass wir Menschen in Zukunft die regulierende Intelligenz der Erde sein werden. Wir werden für die Erde das sein, was das Gehirn für unseren Körper ist.” (Quelle: sein.de) In seiner Beschreibung verwendet er den Begriff „Superorganismus“, der im Jahr 1910 vom Insektenforscher William Morton Wheeler in seinem Buch „Ants: Their Structure, Development, and Behavior“ erstmals verwendet worden war.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Sicht des Menschen auf Welt und Leben tiefgreifend. Die in den vorangegangenen Jahrzehnten erstmals beschriebenen Phänomene von Evolution und Selektion waren bis dahin bereits soweit im wissenschaftlichen Diskurs etabliert, dass sich der Mensch biologisch bald am Ende seiner Entwicklung wähnte. Konsequent entwickelte sich, mit den Ideen Friedrich Nietzsches vom „Übermenschen“ beginnend, der Transhumanismus, in dem es um die zunächst theoretische Möglichkeit geht, dass sich der Mensch willkürlich über sich selbst hinaus zu entwickeln vermag. Mit der aufkommenden Eugenik begannen Wissenschaftler in Abkehr von den bis dahin geltenden ethischen Grundsätzen Ideen für die praktische Umsetzung eines bis zum Äußersten funktionalisierten Menschenbildes zu erarbeiten. In der finsteren Ideologie der Nationalsozialisten und den von ihnen verübten grauenhaften Verbrechen führte diese Hybris der Eugenik weltgeschichtlich erstmals in die absoluten Abgrundtiefen im Handeln von Menschen.
Aber nicht nur Transhumanismus und Eugenik kamen auf, weil der Mensch um die vorletzte Jahrhundertwende damit begann sich nach sich selbst zu fragen. Auch die Psychotherapie und -analyse stehen seither für das sich emanzipierende menschliche Bewusstsein. Da die auf solchen Wegen gewonnenen Einsichten immer zugleich auch die Bedeutung des Menschen als Individualität betreffen und klären, konnte die Frage nach der Gemeinschaftlichkeit nicht ungestellt bleiben. Ein neues Rechtsverständnis begann aufzudämmern, aufgrund dessen bis heute adäquate Regeln des Zusammenlebens gefordert sind, die die Bedeutung des Individuums und die der Gemeinschaft in einer sinnvollen Weise miteinander verbinden.
Sieben Jahre nach W. M. Wheelers Veröffentlichung übertrug der amerikanische Anthropologe Alfred Kroeber in einem Aufsatz den Begriff „Superorganismus“ auf die gemeinschaftsbildende Kultur von Menschen („The Superorganic“in: American Anthropologist, Bd. 19, 1917). Kultur, so Alfred Kroeber, sei das symbolische System, das soziales Verhalten anleite. Der einzelne Mensch agiert darin als Träger oder Ausführender von (kulturellen) Mustern. Dieser Auffassung schloss sich Jahrzehnte später auch Tim Flannery an, für den es Gedanken, Überzeugungen und Werte, mithin Kultur ist, die die Gemeinschaft der Menschen zum Superorganismus prädestinieren. Das bedeutet: Nicht nur die Evolution der Information unserer DNA macht uns als Menschengemeinschaft aus, sondern auch die der Ideen!