Sehr wahrscheinlich ist Ihnen die Erfahrung bestens vertraut, die ich gerade wieder gemacht habe. Ich war an der Außenwand unseres Hauses mit Reparaturen beschäftigt, als langsam der Abend dämmerte. In wunderbaren Nuancen färbte sich der Himmel, aber ich fragte mich lediglich: Wie viel Zeit bleibt mir noch? Mein Plan sah vor, bis zum Abend mit den Arbeiten fertig zu sein. Aber das Leben belehrte mich erneut, dass manche Dinge eben länger dauern als man vordem gedacht hat.
Die Fähigkeit des Menschen bewusst Ziele fassen zu können, ist zweifellos eine großartige. Dennoch führt sie unweigerlich zu einem Zeiterleben, das ich abzüglich nenne. Die Konfrontation mit der zum Abend noch unvollendeten Arbeit ist eigentlich eine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, wie scharf und unerbittlich es ist, wenn es stattdessen beispielsweise um die noch verbleibende Lebenszeit auf Erden ginge. Eine junge Frau, die mit ihrem nahen Tod konfrontiert ist, drückt aus, was sie fühlt: „Ich begriff, dassich, Annika, die am Mitsommertag 19 Jahre alt wird, sterben muss! Mein Körper ist so jung und warm, so ungenützt und soll nun zum Erliegen kommen, während die Zerstörung weiter fortschreitet ... Niemals werde ich meine Meinung herausschreien ... Niemals werde ich richtig erwachsen sein ... Niemals werde ich etwas Tüchtiges, etwas Bedeutendes leisten, etwas wirklich Wichtiges tun ... Niemals schwanger werden, niemals ein Kind tragen, das in mir wächst ... Niemals werde ich alt werden mit einem Menschen, den ich liebe ...(...) Ach, ich kann nicht begreifen, wie die Menschen sich mit dem Gedanken an ein ewiges Leben trösten können! Was soll mir ein Leben danach nützen? ... Und zum Teufel, ich möchte wissen, wie es weitergeht! (…) Ich versuche, du kannst es mir glauben, daran zu denken, daß viele Menschen täglich vor Hunger sterben, denken an alle Menschen, die überall sterben, Tag für Tag, junge Leute wie ich, die ihre Nase gerade erst ins Leben gesteckt haben ... Aber es hilft mir nicht. Das ist alles mögliche, aber es ist der Tod der anderen, nicht mein eigener.“ (G. Beckmann „Ich, Annika.“, Würzburg 1972) Glücklicherweise wissen die allermeisten Menschen nicht wie viel Zeit auf Erden ihnen noch verbleibt. Aber irgendwie ist die Sorge um den letzten, noch nicht vollzogenen Schliff omnipräsent, zumindest wenn man die Sorge um den Rest an Zeit im Zusammenhang ganz alltäglicher Erlebnisse als „kleine“ Sterbeerfahrungen versteht, von denen aus das Ereignis des endgültigen Hingangs als eine Art Integral verstanden werden kann. Dann, im letzten Augenblick des diesmaligen Erdenlebens werden wir, wie es der Volksmund spricht, „das Zeitliche segnen“. Nehmen wir an, wir könnten das lernen. Zum Beispiel beim Arbeiten an einer Hauswand wenn es Abend wird... Oder bei...
Die Güte eines Plans hängt maßgeblich von den vorher gemachten Erfahrungen ab. Übung macht auch diesbezüglich den Meister! Selbst Unvorhersehbares wird in den Plänen der Erfahrenen Berücksichtigung finden. Nun, ich habe die eben erwähnten Arbeiten auch nicht zum ersten mal gemacht. Dennoch dauerte alles länger, und die für Unvorhergesehenes eingeplanten Puffer reichten nicht aus. So etwas führt zu der Erfahrung, die John Lennon einmal in dem einzigen, wunderbaren Satz zusammengefasst hat: „Leben ist das was geschieht während wir Pläne machen.“ Damit wird die Bedeutung des Gedächtnisses, das allen vernünftigen Plänen zugrunde liegt relativiert. Kann man denn das Leben einfach so leben? Möglicherweise ganz ohne Plan und Zeit? Oder anders gefragt: Was ist dieses Leben eigentlich, an das John Lennon dachte als er den zitierten Satz formulierte?
Immer wenn für irgendwas sehr wichtiges die Zeit wirklich knapp wird, kommt die Fähigkeit zu einem außerordentlich präzisen Verhalten ins Spiel, das nur wenig mit unserem sonst alltäglichen Bewusstsein zu tun hat. Je knapper die Zeit wird, desto erstaunlicher kann das Verhalten von Menschen sein. In einem kurzen Gefahrenaugenblick im Straßenverkehr können vom Fahrzeugführer so viele, exakt aufeinanderfolgende Handlungen vollzogen werden, dass ein Unfall vermieden wird. Für solche Augenblicke kann man sogar spezielle Trainings absolvieren, die aber alle gerade nicht darauf ausgerichtet sind, das Gelernte im entscheidenden Augenblick bewusst und willentlich abrufen und vollziehen zu können, sondern die auf das gerade Gegenteil ausgerichtet sind, nämlich auf ein so genanntes spontanes, sachgerechtes Handeln in unerwarteten Situationen – gleichsam aus einer anderen Schicht des Bewusstseins heraus.
Es muss offensichtlich so sein, dass Gelerntes, nachdem es für das wache Bewusstsein vergessen wurde, dennoch wirkt. Wir können bemerken, dass das Erleben von Zeit offensichtlich nur in dem Rahmen eine Rolle spielt, in dem auch unser Gedächtnis wirksam ist. Als eindrückliche Erfahrung der unterschiedlichen Zeitqualitäten erinnere ich mich z.B. daran, wie langsam in Kindheitszeiten die Zeit verging. Die vier Adventswochen zum Beispiel, oder die großen Ferien... Damals verstand ich nicht, was die Erwachsenen meinten, wenn sie davon sprachen, wie schnell ein Jahr vergeht. Ein Jahr erschien mir als eine unglaublich lange Zeitspanne. Das hängt damit zusammen, dass es für ein Kind – im Gegensatz zu den Erwachsenen – überall in der Welt stets so viel neues gibt, dass es zu entdecken gilt. Das Gedächtnis spielt darin noch keine besondere Rolle. In gewisser Weise können wir Erwachsenen uns an dieses Verhältnis zur Welt, und damit an das zur Zeit, ganz gut erinnern, wenn wir gelegentlich überprüfen, wie es uns mit gänzlich neuen Erfahrungen ergeht. Reisen wir in eine uns unbekannte Weltgegend, können die ersten paar Tage aufgrund der vielen neuen Eindrücke auch wie ein, zwei Wochen gefühlt werden. Die Intensität der Erfahrungen ist im Neuenungleich viel stärker. Und je mehr wir darin in erster Linie staunen, desto weiter und größer ist unser Erlebnis der Zeit. Im Gegensatz dazu vergeht die Zeit für das subjektive Erleben viel schneller, wenn wir zum Beispiel gut geplant in vertrauter Umgebung arbeiten. Ein Tag ist dann zeitlich „nichts“.
Sicherlich können Sie einige Beispiele aus eigener Erfahrung für das finden, was ich jetzt beschrieben habe. Und dann ist es kein großer Schritt mehr bis zu dem Punkt, an dem wir Menschen damit beginnen können, an unserem Verhältnis zur Zeit zu arbeiten. Ich meine damit, dass wir versuchen können, der Welt und unseren Mitmenschen, obwohl sie uns wohl vertraut sind, ganz unbefangen zu begegnen. Statt schnell in Begriffen und Urteilen zu landen, können wir es nämlich trainieren, hin und wieder möglichst lange einfach zu staunen. Die alltägliche Lebenserfahrung der unterschiedlichen Zeitqualitäten, auf die ich im vorigen Absatz hingewiesen habe, stellt sich dann nicht „zufällig“ ein (weil wir mit etwas mehr oder weniger vertraut sind), sondern weil wir es so wollen. Mehr und mehr erschließen sich uns die Welt, Sachverhalte und Mitmenschen von ihrer zeitlosenSeite. Etwas Nichtalltägliches, Neues tut sich für unsere Erfahrung auf.
Zeit ist sozusagen nur da, wenn wir sie, bis zu einem gewissen Grad, selbst hervorbringen. Und weil sie die prinzipielle Grundlage unserer irdischen Existenz ist, beinhaltet das Hervorbringen der Zeit auch das Erzeugen der Selbstgegenwärtigkeit unserer selbst. Die kleine Erfahrung an der Hauswand rückt nah an die einstige, große Erfahrung des Hingangs heran. „Das Zeiterleben des Menschen tritt gleichzeitig mit seinem Sich-Selbst-Erleben auf. Beide steigern sich gegenseitig. Die Zeit quillt aus dem sich in der Erscheinungswelt verwirklichenden Wesen des Menschen hervor. Nennen wir dieses Wesen des Menschen sein „Ich“, dann kann man sagen, das Ich ist der Quell der Zeit. Hieran wird deutlich, dass die Redensarten: keine Zeit haben, Zeit gewinnen, -verlieren, -vergeuden, -stehlen, -rauben, Zeit ist Geld und andere jeweils auch eine Aussage über unser Ich als den Quell der Zeit machen. Es kann ermessen werden, dass viele dieser Redensarten im letzten Grunde das Ich verneinen. In einer Zeit, in der man sagt: Ich habe keine Zeit, ist das Ich des Menschen in Gefahr. Wenn wir uns aber Zeit nehmen, uns und anderen Zeit lassen und Zeit geben, wofür wir Zeit brauchen; wenn wir Zeit haben, unser wahres Wesen zu zeitigen, dann dürfen wir begründete Hoffnung haben, das Zeitliche einmal wahrhaft segnen zu können.“ (Wilhelm Hoerner „Zeit und Rhythmus“, Stuttgart 1978)
Die Vorgänge des Lebens sind solche des dauernden Wandels. Nichts bleibt für immer gleich. Es sind gewaltige Wandlungsvorgänge, die Gebirgsmassive entstehen lassen, sie wieder zu Sand verwandeln, oder die den Jahreszeiten Wind und Wetter geben. Je umfassender und zeitlich weitreichender das wandelnde Geschehen, desto weniger bemerken wir davon. Auch unser eigenes Alter kommt langsam schleichend in unser Leben hinein. Und indem wir den Lauf der Zeit linear erleben, Anfang und Ende für irgendetwas oder uns selbst setzen, geraten wir in den Strudel des abzüglichen Zeiterlebens: Bis zu einem Ende verbleibt dann immer nur noch eine begrenzte Spanne Zeit.
Sehen wir aber für einen Moment von der menschengemachten Einteilung linear verlaufender Zeit ab, enthüllt sich ein ganz anderes Bild der Wirklichkeit. Der Filmemacher Alexander Kluge spricht diesbezüglich von einer „konstellativen Zeit“. In seinem Film „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ verlässt er die vertikale Ebene des Erzählens, die vom Anfang zum Ende verläuft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht mehr getrennt, eine Gleichzeitigkeit wird erschlossen. Diesem ungewohnten Blickwinkel kommen wir nahe, wenn wir uns bewusst machen, dass das äußere Altern nicht verhindert, dass das Kind oder der Jugendliche der wir einmal waren bleibt. Das innere Wesen altert nicht, jedenfalls nicht linear. Es ist selbst ohne Zeit, sondern erschafft sie vielmehr, um die Wirklichkeiten des Wandels deuten zu können und – wie gesagt – Pläne zu schmieden und Ziele zu schaffen. Gefährlich wird die Lage allerdings, wenn wir die von uns selbst geschaffenen Koordinaten der Zeit mit dem zeitlosen inneren Wesen allen Seins zu verwechseln beginnen. In gewisser Weise sind wir aber bereits in dieser Gefahr angekommen.