Es fällt uns Menschen nicht ganz leicht, uns wirklich vorzustellen, was sich außerhalb der Gegenwart alles ereignet hat, bzw. was sich noch ereignen wird. Unser Alltagsbewusstsein taugt (dummerweise) zu nicht sehr viel mehr, als zum Erfassen der augenblicklichen Wirklichkeit. Wir wissen zwar einiges von früheren Zeiten, aber tatsächlich erleben tun wir sie zurückblickend nur sehr eingeschränkt. So fern wie vergangene Zeiten ist unserem Erleben auch die Zukunft.
Die Begrenztheit unseres Vorstellungsvermögens wird schnell klar. Fragen Sie sich doch selbst jetzt einmal: Wie war das Lebensgefühl eines Menschen im Mittelalter, z.B. angesichts der Tatsache, dass sein Überleben ständig von todbringenden Seuchen bedroht war, gegen die es noch keine wirksamen Maßnahmen der Prävention, Medikamente und Therapien gab? Inwiefern wird demgegenüber unser Lebensgefühl dadurch geprägt, dass wir heutzutage nahezu alle gefährlichen Krankheiten kennen, und bereits ein Gutteil davon medizinisch beherrschen? Wie anders wird das Lebensgefühl der Menschen der Zukunft wohl sein, wenn ihre Leiber jederzeit, bis in die feinsten Ebenen hinein, nicht nur manipuliert, sondern sogar auch komplett gezüchtet werden können?
Wir Menschen sind, bleiben und werden nicht nur, was sich im Sinne der biologischen Vorgabe als Leib und Existenz auf natürliche Weise entfaltet. Es kommt schon sehr lange etwas „typisch menschliches“ hinzu, über das wir in voller Freiheit ohne besondere Rücksicht auf unsere Mitwelt scheinbar immer besser verfügen. Wir verändern die Welt, aber unvermeidbar verändern wir darin auch uns. Auch an uns selbst, also nicht nur an der Welt, erscheinen die Folgen unserer Taten. Daran besteht kein Zweifel mehr. Aber zur wirklich vernünftigen Abschätzung der Folgen gehört, was wir ohne besondere Aufmerksamkeit und Übung einfach nicht gut genug können, nämlich das Erleben von dem was war und was einst sein wird. Zur Ausbildung dieser Bewusstseinsqualität sind wir zwar geeignet, aber sie fällt uns nicht einfach zu. Infolge schaffen wir eine Welt, die gegenwärtig vielleicht komfortabel ist, aber nicht von historischem Bewusstsein und von Verantwortung für die Zukunft getragen ist. Diese Art der Rück- und Vorsicht tritt hinter Profitgier und Machbarkeitswahn zurück. Dadurch wird unsere Epoche geprägt.
Der niederländische Meteorologe Paul Josef Crutzen, 1995 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet, veröffentlichte im Jahr 2000 einen Artikel, in dem er den Begriff Anthropozän (von altgriechisch ἄνθρωπος, ánthropos, „Mensch“ und καινός, „neu“) zur Bezeichnung jener neuen geochronologischen Epoche vorstellte, als deren Beginn die Gegenwart verstanden werden kann. Es sind herausragende Ereignisse, die den Beginn des neuen Zeitalters markieren. Und es ist auch eine bisher unbekannte Geistesart, die an ihnen zutage tritt.
Als es am 16. Juli 1945 soweit war, dass die erste der drei Atombomben des Manhattan-Projekts in der Wüste von Nevada gezündet werden sollte, konnten die Folgen vorher nur lediglich berechnet werden. Es gab noch keinerlei praktische Erfahrung mit den Folgen der Entfesselung einer so gewaltigen Sprengkraft. Eine Gruppe der mit der Berechnung betrauten Wissenschaftler kam damals zu dem Ergebnis, dass die Atmosphäre der Erde vernichtet werden könnte. Trotzdem wagte man die Zündung! In den folgenden Jahrzehnten wurden dann nach und nach so viele Nuklearsprengköpfe gebaut, dass man – nun sogar durch Praxiserfahrungen abgesichert – von einem mehrfachen „Overkill“, also der mehrfachen Vernichtung der ganzen Erde, zu sprechen begann.
Die Zündung der ersten Atombombe steht für manche Forscher für den Beginn des Anthropozän, andere schlagen das Jahr 1800 dafür vor, weil es für den Beginn der Industrialisierung steht. Vielleicht markieren auch der Beginn vom Internetzeitalter oder die Entschlüsselung des menschlichen Genoms die unumkehrbare Wende. Klar ist jedenfalls, dass wir Menschen zwar handeln und unsere technischen Möglichkeiten in immer größerer Geschwindigkeit perfektionieren, aber um das tatsächliche Wissen um mögliche Folgen zu allermeist verlegen sind. Wir tun, was wir können, statt zu lassen, wovon wir zu wenig wissen. Mit unserer Zivilisation haben wir die Evolution mittlerweile überholt. Man kann sagen, dass die Rücksichtslosigkeit des Menschen in ihr nicht vorgesehen war. Im Anthropozän stellt sich schließlich die Frage, inwiefern menschliche Wirtschaft überhaupt noch natürlich, also ökologisch und sozial sinnvoll sein kann?
Durch natürlichen Bedarf wird in einem intakten Ökosystem immer jene Überfülle begrenzt, zu deren Produktion ein jedes Lebewesen zugunsten seiner Mitwesen veranlagt ist: Möglichst viele Nachkommen sichern in der Nahrungskette das Überleben der eigenen Art. Es wird eben normalerweise nie alles gefressen. Etwas überlebt – und stellt das Überdauern sicher. So ein natürlicher Gewinn, die notwendige, arterhaltende Überfülle, ist deshalb nicht nur nicht problematisch, sondern notwendig.
In unserer Art des Wirtschaftens haben wir dieses natürliche Maß – aus welchen Gründen und aufgrund welcher Einflüsse auch immer – überschritten. Entwicklungsgeschichtlich begann es damit, dass nicht mehr nomadisierende Menschen damit beginnen konnten, Besitz zu horten und zu lagern. Weil sie damit aufgehört hatten zu wandern, mussten sie ihren Besitz auch nicht mehr dauernd transportieren. Sie konnten neuerdings mehr haben, als sie tragen konnten – und das war bald sehr viel mehr, als sie eigentlich zum Erhalt ihres Lebens brauchten.
Durch diese Veränderung angestoßen, begann sich zu entwickeln, was ich die „Forderungskultur“ nenne. In ihr wird nicht genügsam entgegengenommen und gepflegt, was dem Lebenserhalt dienlich ist, sondern es wird möglichst viel gefordert, wobei sich das (offene) Maß dafür von einem tatsächlich nachvollziehbaren, durch das Leben vorgegebenen Bedarf mittlerweile weit entfernt hat. Es geht schlussendlich nur noch um den möglichst großen Besitz an sich. Vor allem durch das Geldsystem mit seinen Eigenschaften von Zins und Zinseszins begünstigt, ist die Forderungskultur vorherrschend geworden. Im Anthropozän ereignen sich unter den Menschen selbst nur noch sehr wenige Wirtschaftsvorgänge, die davon unberührt geblieben sind. Und auch in unserer Mitwelt suchen wir Menschen – den Systemgewalten der Forderungskultur folgend – ständig nach Gelegenheiten zur Produktion von so genannten Mehrwerten, die Gewinne verheißen, die mit unseren natürlichen Bedürfnissen nichts mehr zu tun haben. Nicht nur die Welt ist eine andere geworden, sondern auch der Mensch wird von den Kräften erfasst, die er selbst entfesselt hat.