Wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen früherer Zeiten einen leichteren Zugang zur Vorstellung vom Mütterlichen der Erde hatten, und wenn es ihnen darum auch nicht grundsätzlich fremd erschien, diese Mutter Erde als tatsächlich lebendiges Wesen, also als Subjekt zu erleben, lässt sich unschwer ahnen, dass das ganze Leben damals noch auf grundsätzlich anderen Vorzeichen beruhte.
Was ist seitdem geschehen, bis wir zur gegenwärtig vorherrschenden Denkart gelangt sind, die – im Ergebnis – immer wieder und immer ausgreifender zu einem lebensfremden und -feindlichen Verhalten und Umgehen mit den Weltwirklichkeiten führt? Wie können wir Heutigen uns die Erfahrungsqualität und Sichtweise der uns vorangegangenen Generationen wieder erschließen?
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts war offensichtlich für den Menschen die Zeit dafür gekommen, die Fragen nach den Grundlagen seines Daseins prinzipiell zu erörtern. Die mechanistischen Deutungen organismisch-leiblicher Funktionen in Biologie und Humanmedizin begründeten für die einen ein charakteristisches Menschen- und Weltbild, das von anderen vehement infrage gestellt wurde. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die im 19. Jahrhundert aufkommende Psychologie – als eine die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften übergreifende Disziplin – lehrte den Menschen die Frage nach sich selbst zu stellen. Konkret wurde dieser Ansatz mit Beginn des 20. Jahrhunderts in Psychoanalyse und -therapie. Unter den Philosophen der damaligen Zeit war es Martin Heidegger, der angesichts der sich abzeichnenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen demgegenüber eine von ihm so genannte Fundamentalontologie forderte. Das bis dahin aus dem Blick geratene sollte wieder Beachtung finden, insofern die Frage aufgeworfen wurde, inwieweit das dem Seienden zugrundeliegende Sein als solches erkannt werden kann und wird. Darin liegt der Dreh- und Angelpunkt Heidegger`scher Denkart, von der aus sich auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Technik ergibt. Der Mensch, so Heidegger, sähe die Welt nur noch unter den Gesichtspunkten der Nutzbarmachung für seine Zwecke. Wie wahr: Diese veränderte Weltsicht, also das beschränkte Erleben der eigentlichen Seinsgrundlagen, führt unübersehbar zu den gewaltigen Problemen, die menschliches Handeln für die Welt verursacht!
Infolge hat sich auch das Verhältnis, das der Mensch zu sich selbst und zu seinem Leben hat prinzipiell verändert. Die angestoßenen Entwicklungen schlugen auf den Menschen selbst zurück, ohne dass er das so erwartet hätte. Aber wer immer nur nach dem technischen Nutzen und der diesbezüglichen Verwertbarkeit von irgendetwas sucht, der darf sich nicht wundern, wenn er schließlich selbst genauso gesehen und bewertet wird, wie er es vorher mit allen und allem gemacht hat. Im Zuge dieser Entwicklung trat das Prinzip der Vergänglichkeit aller Lebensformen in den Vordergrund des Weltwahrnehmens. Es ist plötzlich vor allem wichtig, gegebene Chancen schnell zu ergreifen und „noch verbleibende Zeit“ zu nutzen. Solche Lebensführung ist auf das Ende und auf allgegenwärtige Vergänglichkeit hin orientiert. Es ignoriert, dass jeder Moment als Anfang, als Geburt im Strom des dauernden Geborenwerdens verstanden werden kann. Tatsächlich sähe die Welt unter eben diesem Vorzeichen ganz anders aus, und auch das menschliche Verhalten könnte dem Leben unbedingt dienlich sein. Hannah Arendt, eine Schülerin Martin Heideggers, sprach denn auch von der Geburtlichkeit des Menschen, die es, im Gegensatz zur gefürchteten Sterblichkeit, zu erkennen gelte. Aber gerade damit haben wir Menschen es nicht nur aufgrund der kulturgeschichtlichen Determination nicht gerade leicht. Uns ist auch evolutionsbiologisch eine besondere Bürde auferlegt, indem der Lauf der Zeit uns zu einem Wesen werden ließ, für das schon der Antritt zum Leben auf Erden zu einem besonderen geworden ist. Die Geburt geschieht aus einem mütterlichen Leib heraus, und das im Vergleich mit anderen Lebewesen auch noch zu früh. Die Ablage noch unbefruchteter Eizellen geschieht, wie beispielsweise bei den Fischen, nicht irgendwo. Es ist auch kein Nest, indem sich die Ausbrütung ereignet, sondern es ist ein mütterlicher Leib, in dem sich die Befruchtung der Eizelle und die Reifung des Menschenkeims ereignen. Dann, nach der Entbindung, findet sich der Mensch in einer Welt wieder, die er – vor dem Hintergrund seiner Herkunft – als Außenwelt bezeichnet. Hinzu kommt die Situation in frühester Kindheit, als Mensch für ein Überleben in der offenkundigen Unwirtlichkeit dieser Außenwelt nicht gerade gut gerüstet zu sein. Die Endbindung ereignet sich so gesehen um einige Monate zu früh. Aber gerade darin liegt die Besonderheit begründet, dass der Mensch im Unterschied zu allen anderen Lebewesen auf Erden als autoplastisches und -didaktisches Wesen verstanden werden kann. Er kann aus eigenem Antrieb und Entschluss selber etwas aus sich machen. Er findet sich evolutionär zur freien Entwicklung und Tat veranlagt!
Menschliches Handeln kann von Beginn an als ein Ringen mit Widerständen verstanden werden. Schon der mütterliche Organismus wehrt sich mit seinem Immunsystem gegen die eingetretene Schwangerschaft. Wird dieser Widerstand nicht überwunden, bleibt dem Keim keine Chance zum Überleben. Auch die Geburt und die darauf folgende Entwicklung hin zum selbstständigen Leben wird zur Trennungsarbeit der Mutter, und später zunehmend auch des Kindes. Die Separation bleibt scheinbar sogar ein Prinzip menschlichen Lebens, wenn man darauf sieht, wie wir miteinander und mit der Mitwelt umzugehen gewohnt sind. Rückblickend bleibt in allem allenfalls die zarte Ahnung der einstigen Geborgenheit im mütterlichen Leib. Aber ist das selbstbestimmte Leben in den alltäglichen Verhältnissen etwas, in dem es mütterliche Geborgenheit tatsächlich gar nicht mehr gibt? Erliegen wir nicht einem Irrtum, wenn wir das glauben?