Sicherlich können Sie sofort das Eine oder Andere damit verbinden wenn von einem „fruchtbaren Boden“ die Rede ist. Vielleicht denken Sie jetzt an Wiesen und Äcker, vielleicht an Ihren Garten?
Jedes Pflanzenwachstum hängt zu einem großen Teil von der Beschaffenheit des Bodens ab, in dem sie verwurzelt ist. Es lässt sich sogar durch den Blick auf die Pflanzen einer bestimmten Gegend manches über das Vorhandensein oder den Mangel an bestimmten Stoffen im Boden aussagen. Böden wirken im Wachstum der Pflanzen – ihre Entwicklung fördernd oder hindernd.
Natürlich lässt sich dieses Bild nicht direkt auf uns Menschen übertragen. Schließlich sind Menschen im äußeren Sinne ja nicht in einem Boden verwurzelt, sondern gehen auf ihm herum. Aber indirekt lenkt die Metapher in eine interessante Richtung, wenn wir nämlich erkennen, dass wir anstelle des Erdbodens Wurzeln in unsere Erinnerungen treiben. Ihre Art und Beschaffenheit hat Einfluss auf unser Leben und unsere Entwicklung. In der Auswahl und Pflege dessen woran wir uns erinnern, können wir, ähnlich wie beim Bestellen der Beete im Garten, für gute, geeignete Wachstumsbedingungen sorgen. Über diese Möglichkeit verfügen wir!
Das Bild von den Wurzeln im fruchtbaren Boden hat ja zweierlei zum Inhalt: die Wurzeln und den Boden. Das lässt sich bezüglich der Erinnerungen als das individuell Menschliche und als das Gemeinsame deuten. Und insofern wir in unseren Erinnerungen nicht nur an einem Ort verwurzelt sind, sondern uns innerlich frei umher bewegen können, wie wir das ja auch in unserer äußeren Umgebung tun, bedienen wir uns unserer besonderen, menschlichen Fähigkeiten. Diese Tatsache wird in ihren beiden Aspekten, dem Verhaftet- und dem Freisein, im Märchen „Die Alte im Wald“ der Gebrüder Grimm angesprochen: Ein Königssohn und sein Gefolge sind darin in Bäume verzaubert, bis sie durch ein hilfsbereites Mädchen erlöst werden. Was kann uns dieses Märchen bezüglich der Art unseres Erinnerns wohl lehren?
Tatsächlich begegnen wir bezüglich unserer so genannten kulturellen Identität ebenfalls dieser Zweiheit des Verhaftet- und Freiseins. Zum einen gibt es für jeden von uns eine Herkunft, die uns zweifellos bis zu einem gewissen Grad prägt. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grad, denn unser Wohnort, die Muttersprache, der familiäre Hintergrund, die in unsrer Herkunftsregion üblichen Gebräuche usw. können nicht der alleinige, bestimmende Hintergrund unserer Persönlichkeit bleiben, denn dann käme unsere Entwicklung in diesen unseren Zeiten zum Stillstand. Wir würden, bildlich gesprochen, „in einen Baum“ verwandelt. Diese Einseitigkeit zu vermeiden, bzw. wieder aufzulösen, sollte zentrales Motiv in unserem Erinnern sein. Dann werden wir beweglich, wurzeln an verschiedenen Orten, realisieren und verstärken dadurch kulturelle Vielfalt. Der US-amerikanische Historiker Jonathan C. Friedman bezeichnete den Fortschritt vom Nachdenken über die Herkunft hin zur Reflexion gegangener Lebenswege kurz und knapp als einen Weg “from Roots to Routes”.
Das Eine ist, dass wir unser Leben durch die Art und Beschaffenheit unserer Erinnerungen in besonderer, individueller Art erfahren. So gesehen gehört zu jedem Menschen eine ganz persönliche, einzigartige Wirklichkeit. Das Andere ist, dass gemeinsame Erinnerungen und Erfahrungen so besonders auf uns wirken, weil sie unseren persönlichen, zuweilen fest gewordenen Standpunkt ein Stück weit auflösen, und darum unsere weitere Entwickelung fördern können. Die kulturelle Vielfalt, die uns in unserer globalisierten Welt allerorten begegnet, bietet uns allen darum eine so große Chance!